Europa der Regionen von Robert Krieg

 

Liebe Mitstreiter/innen,
 
das Manifest von Prof. Dr. Bernd-Peter Lange hat mich dazu ermuntert, ein paar Gedanken aufzuschreiben, die Sie/Euch hoffentlich noch rechtzeitig vor unserem morgigen Treffen erreichen!
 
Bester Gruß
Robert Krieg
 


Europa neu denken
 
„Europa von der Basis her denken“ scheint mir das Gebot der Stunde. Die Menschen sensibilisieren für den europäischen Gedanken, für ein europäisches Miteinander, das - scheinbar gesetzt - für viele Menschen nicht mehr der Rede wert ist oder nur noch für einen Aufreger taugt, wenn eine neue Verordnung Gewohntes unterbricht und infrage stellt. Wenn zum Beispiel ein Bauer aus meiner Nachbarschaft keine Hausschlachtungen mehr durchführt, da seine Pistole nicht mehr der europäischen Norm entspricht und eine neue Pistole für ihn zu teuer in der Anschaffung ist. Oder ich im Dritte-Welt-Laden frage, warum der Apfel-Hof eines Behinderten-Werks, das zahlreiche behinderte Menschen beschäftigt, keine Äpfel mehr liefert. Er habe die Produktion eingestellt, da die Sicherheitsbestimmungen für Behinderten-Arbeitsplätze nicht mehr der europäischen Vorschrift entsprechen und eine Umrüstung enorme Kosten verursachen würde. In einer Region Nordspaniens, die ich kürzlich besuchte, proben die Landwirte den Aufstand, da sie neuerdings nicht mehr die Gülle in der gewohnten Weise auf die Felder fahren dürfen.  Wenn ich dann auf die Vorzüge und Vorteile der EU hinweise, ernte ich ein Kopfschütteln, es sei denn, mein Gegenüber ist ein politisch interessierter Mensch, der in Zusammenhängen zu denken weiß.  Wie z. B. ein junger spanischer Kreisgemeinderat, der sozial und ökologisch orientiert ist und mithilfe der europäischen Gesetzgebung den Neubau von Fußgängerwegen in mehreren Gemeinden seines Landkreises durchsetzen konnte, gegen den Willen der Sozialisten und der Volkspartei. Das wird nur im Ergebnis wahrgenommen, die helfende Hand aus Brüssel leider nicht.
 
Wie schafft man es, eine Brücke zu schlagen zwischen Brüssel und den europäischen Bürgern vor Ort. Volksabstimmungen sind eine Möglichkeit, doch der etablierten Politik graut davor. Der notwendige Dialog hat seine Tücken. Das haben die Volksvertreter 2005 in Frankreich zu spüren bekommen, als der europäische Verfassungsvertrag zur Abstimmung vorlag. 92 Prozent der Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung  waren für die Ratifizierung, im Referendum lehnte eine große Mehrheit der Franzosen den Verfassungsvertrag ab. Dem war ein Politisierungsschub vorausgegangen. Der trockene und eigentlich nur für Europarechtler lesbare Text des Verfassungsvertrags wurde über Nacht zu einem Bestseller. Auf unzähligen Websites und Blogs wurden immer neue Analysen und Bewertungen veröffentlicht und anschließend von Tausenden diskutiert. An das Licht gebracht wurde dabei, dass sich unter harmlosen Überschriften, die etwa eine soziale Marktwirtschaft versprechen, oft beinharte neoliberale Verpflichtungen verbargen.
 
Unser deutsches Grundgesetz enthält wohlweislich keinen Abschnitt, der explizit das „Wirtschaftsleben“ regelt und einer bestimmten Wirtschaftsordnung das Wort redet. Was die Franzosen 2005 umgetrieben hat, beschrieb  Professor Joachim Schild von der Uni Trier so: »Man würde das mit dem Referendum einhergehende Signal jedoch völlig falsch deuten, wenn man die genuin europapolitischen Beweggründe im Abstimmungsverhalten der Französinnen und Franzosen nicht berücksichtigte. ... Das abstimmungsentscheidende Thema, das mit vielfältigen Variationen die französische Referendumsdebatte beherrschte, war jedoch der Gegensatz zwischen einem ungezügelten Neoliberalismus und einem sozialstaatlich geprägten europäischen Gesellschaftsmodell in seiner spezifisch französischen Ausprägung.« Am Abstimmungsverhalten sowohl in Frankreich als auch in Holland war deutlich geworden, dass Zustimmung und Ablehnung des Verfassungsvertrags eng mit der sozialen Lage korrespondierten.
 
Und hier kommen wir in der aktuellen Situation an. Das neoliberale Wirtschaftsmodell, das die europäische Wirtschaftspolitik beherrscht, hat einen tiefen Graben zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden aufgerissen und europafeindliche, faschistische Parteien erstarken lassen. Hauptnutznießer dieser Wirtschaftspolitik ist Deutschland. Das unter Schröder ins Leben gerufene und unter Merkel/Schäuble perfektionierte Wirtschafts-Programm kann nur auf dem Rücken der anderen europäischen Länder funktionieren. Nicht alle europäischen Länder können Exportüberschüsse erwirtschaften, also mehr herstellen als sie selbst verbrauchen.
 
Thomas Mann hatte mit Blick auf die beiden von Deutschland angezettelten Weltkriege gefordert, dass die europäische Integration in ein europäisches Deutschland münden müsse, keinesfalls in ein deutsches Europa. In dem italienischen Dorf in der Nähe Roms, mit dessen Einwohnern mich eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, spüre ich die wachsende, unverhohlene Ohnmacht und Skepsis gegenüber einem übermächtigen Deutschland, das seine ökonomischen Regeln in ganz Europa durchsetzt. Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck forderte dagegen einen neuen Sozialvertrag für Europa, in der die Wirtschaftspolitik auf mehr Investitionen setzt und der sozialstaatliche Schutz stärker europäisiert wird. Nur so kann man – meine ich – den Vormarsch der Ewiggestrigen und Faschisten in Europa aufhalten.
 
Wie kann Partizipation unten am praktischen politischen Geschehen oben auf der europäischen Ebene ankommen? Indem das Geschehen an der Basis ernst genommen und die vielfältigen Initiativen und Gegebenheiten in den europäischen Regionen aufgegriffen, weiterentwickelt und fruchtbar gemacht werden. Das setzt einen Prozess der Dezentralisierung voraus, den die technologischen Entwicklungen de facto ohnehin favorisieren, wie Beispiele aus den Bereichen Energiegewinnung/-versorgung und Digitalisierung eindrücklich vorführen. Regionale Stärke kann nationalstaatlichen Interessen im Wege stehen, die in zentralistisch organisierten Staaten wie zum Beispiel Frankreich oder Spanien den öffentlichen Diskurs beherrschen. Das führt zu Zwistigkeiten. Schottland und Katalonien würden ihren Nationalstaaten am liebsten den Rücken kehren bei gleichzeitig eindeutigem Wunsch, Mitglied der EU zu bleiben. In einigen Regionen Frankreichs und Italiens sieht es kaum anders aus. Dieser scheinbare Widerspruch lenkt den Blick auf die Regionen, auf die Rolle, die sie in einem zukünftigen Europa spielen könnten. Die sich nicht durch Abschottung, Wohlstandschauvinismus und Fremdenfeindlichkeit auszeichnet wie etwa in der Lombardei in Norditalien, sondern durch eine selbstbewusste Weltoffenheit, die jeder Art von regionalem Partikularismus entgegentritt. Gemeinsam mit unserem Mitstreiter Professor Dr. Bernd-Peter Lange stelle ich mir die Frage, „ob die EU als ein Europa der Regionen zu denken und zu organisieren ist bei weiterer Zurückdrängung der Nationalstaaten.“
 
Wie kann man ein funktionierendes Europa aus Regionen bauen, ohne den Bezug zur restlichen Welt zu verlieren? Wie kann man eine "direkte Verbindung zwischen dem Lokalen/Regionalen und dem Globalen jenseits von Staaten“ (Ulrike Guérot) herstellen?
 
Region und Heimat sind für die Menschen unverzichtbar als Bezugsfelder ihrer eigenen Identität. Darauf haben namhafte Philosophen wie Ernst Bloch in seinem Werk „Das Prinzip Hoffnung“ hingewiesen. Es wäre fatal, den überall in Europa erstarkenden rechtsnationalen und faschistischen Parteien die Deutungshoheit über Region und Heimat zu überlassen. Regionen präsentieren nicht nur eigene Kulturen, sondern sind zugleich Orte der Innovation und Aufklärung.
 
Gemeinsamkeiten und Verbindungen sind in vielen Regionen Europas eine Selbstverständlichkeit, die nicht an nationalen Grenzen halt macht. Grenzregionen sind häufig historisch gewachsene Räume, die nationale Grenzziehungen ignorieren. Sie leben konkret vor, was Europa wirklich auszeichnet: eine Vielfalt von Kulturen, Traditionen, Mentalitäten und Sprachen, die nicht trennen, sondern verbinden. Grenzregionen können als Motoren eines transnationalen Verständnisses fungieren. Ein Europa der Regionen heute zeichnet sich nicht mehr wie in den 70er Jahren durch kulturelle Differenz sondern durch die Pflege gemeinsamer Güter aus. Das leben zahllose Städte- und Gemeindepartnerschaften, Austauschprogramme und Kooperationen in kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen vor.
 
 Für mich stellt sich die Frage, wie man eine europäische Republik verwirklichen kann, in der nicht mehr die angeschlagenen, klassischen Nationalstaaten das Sagen haben, sondern die Regionen, - vereint unter einem europäischen Dach, das die Rahmenbedingungen schafft für ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben.
 
 
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Priv.
Dr. Robert Krieg
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Kategorie: Was soll werden? - Manifest - Diskussion
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