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Lieber Robert,

ich habe mich sehr gefreut über deine scharfsinnige und kluge Analyse. Auch wenn ich nicht alle Punkte teile, finde ich das einen extrem wichtigen Diskussionsbeitrag. Als europäische "Jubelperser" kommen wir nicht weiter. Wir müssen schon auch Schwachstellen benennen und die Politik zu Lösungen tragen/treiben ...

Es wäre schade, wenn deine Gedanken nur unter uns bleiben. Spontan fallen mir die so genannten Europasalons in Berlin und Brüssel ein. Hast du Lust da mal im Podcast aufzutreten? Oder die Hausparlamente von Pulse wären auch eine Plattform für dich? Die Hausparlamente von Pulse kooperieren inzwischen mit openpetition, sodass da jetzt viele Menschen erreicht werden.
 
Lass uns mal drüber reden, wie viel Zeit du investieren willst und wie wir dir Pulse-Kontakte dafür anbohren können.

Inhaltlich bin ich völlig d'accord mit deiner Kritik am neoliberalen Zeitgeist. Die soziale Spaltung der Gesellschaften in USA und UK und anderswo und die letzten globalen Krisen belegen ja deutlich, was passiert, wenn alle/viele Lebensbereiche nur noch als Geschäft zwischen großen und kleinen Playern abgewickelt werden und der Staat sich als Gestalter/Korrektiv heraushält. Mit Corona ist das neoliberale Modell endgültig gescheitert.

Auch dass die gemeinsame Währung nicht von einer gemeinsamen Politik gesteuert wird, sondern von unflexiblen Regeln, auch dieses Modell müsste auch für den letzten NationalpolitikerIn mit Corona endgültig gescheitert sein.

Allerdings gibt es außer meiner Sicht noch andere Aspekte, die für ein einiges Europa lebenswichtig sind.

1. Lissabon hat nicht nur eine europäische Verfassung gebracht, sondern auch die Forderung,  dass Europa technologisch aufholen muss. Leider ist diesbezüglich wenig geschehen. Die unregulierten/instrumentalisierten US- und chinesischen Digitalkonzerne ziehen uns unsere Persönlichkeitsprofile aus den Fingern und folglich auch die Werbemilliarden (Krise des Journalismus!), weil es keine gleichwertigen europäischen Player gibt. Warum gibt es kein europäisches Zoom? Warum ist Airbus die letzte europäische Erfolgsgeschichte?

2. Die Digitalisierung spaltet die Gesellschaft in wenige extrem erflogreiche Gewinner und viele, die ihre alten Berufe/Status etc bedroht sehen. Die Angst vor dem Bedeutungsverlust betrifft nicht nur Ungebildete und Malocher, sondern auch Steuerberater, Manager, sogar Internisten - reicht also bis an die Spitze der Hackordnung. (Stichwort KI - auch hier von EU-Seite nur Erklärungen, aber keine mir bekannten Resultate). Diese diffuse Angst bringt wiederum die alt bekannte Suche nach den Sündenböcken...

3. Man kann den Menschen ihre über 150 Jahre erworbene nationale Identität nicht wegnehmen.  Deshalb wollte sich Sven Giegold bei seinem Europa-Wahlkampf Auftritt am deutschen Eck nicht zu unserem europäischen Eck äußern. Ich habe ihn auch verstanden.  Man kann den Leuten noch eine europäische Identität on top auf ihr Deutsch sein geben, also aus Deutschen europäische Deutsche machen oder deutsche Europäer,  aber man kann die Deutschen, Holländer... nicht zu reinen Europäern machen. (Siehe die nächste Fußball-EM)
Auch ich verstehe mich als Schwabe + Deutscher + Europäer. Seit ca 1 Jahr versuche ich auch in unseren westlichen Nachbarländern geschäftlich Fuß zu fassen. Aber es ist mir klar geworden, wie unterschiedlich wir ticken. Nur ins niederländische,  französische oder luxemburgische übersetzen ist grade mal der Anfang.
Und die grenzüberschreitende regionale Identität ja faktisch nicht vorhanden außer bei Basken und vielleicht Dänen. Guck mal nach Brandenburg / Lubuskie - ausser der Oder, der Viadrina und Handel gibt es da keine gemeinsame Identität.

4. One man one vote - ich teile voll die Meinung von Jutta. Ja d'accord es gibt ein Gleichheitsdefizit, aber one woman one vote würde bedeuten, dass nur die grossen Länder was im EP zu klucken hätten, Deutschland wieder zu groß für Europa wäre (aber zu klein für die Welt) und die kleinen Länder aus Europa raus wären. Ich hab mal zwei Jahre in Estland gearbeitet. Die Angst von den Großen geschluckt zu werden, ist dort weit verbreitet. Wenn man sich da unverfänglich mit einer mittelalten Frau unterhält und ein Date fürs Wochenende ausmachen will, dann kommt da schnell mal die Reserveübung dazwischen, wo die Holde mit der Maschinenpistole durch den Wald rennt. Richtung Osten.

Wenn die Gleichheitsforderung One man one vote in der deutschen Bevölkerung bekannter wäre, dann hätten die Nationalisten ein weiteres schlagkräftiges Argument gegen Europa außer Deutschland als Zahlmeister.

Deshalb halte ich one woman one vote für brandgefährlich. Auch Ulrike Guerot sägt da an dem Ast, auf dem wir Europäer sitzen. Vielleicht gibt es eine typisch europäische Kompromissformel, die one man one vote und
Mitbestimmung der kleinen Länder unter einen Hut bringen. Transnationale Parteien sind auch ein weiter Weg. Volt ist ein netter Versuch von 2-3 Jungspunds aus dem europäischen Hochadel (was auch zeigt, wie dünn das Eis der sonstigen transnationalen gesellschaftlichen Beziehungen ist).

Wir sollten die deinen Beitrag, lieber Robert, unbedingt größer herausbringen.
Einheit in Vielfalt!

Machs gut und europäische Grüße

Hape

Kategorie: Was soll werden? - Manifest - Diskussion
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